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Zweisprachigkeit versus Übersetzungskompetenz

Veröffentlicht am: 18/08/2025
bilingualism

Einleitung: Sie denken, Sie sind zweisprachig? Denken Sie noch einmal nach.

Viele von uns träumen davon, zwei Sprachen mit der gleichen Leichtigkeit und Sicherheit zu beherrschen. Weit verbreitet ist die Annahme: Wer zwei Sprachen spricht, ist zweisprachig. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich eine weitaus komplexere Realität. Von subtilen Akzenten bis zu ungleichen Wortschätzen, Zweisprachigkeit ist oft anders, als sie scheint. Wer meint, Zweisprachigkeit bedeute automatisch herausragende Übersetzungsfähigkeiten... nun, das ist ein weiterer Mythos, den es zu erforschen gilt.

1. Was bedeutet es wirklich, zweisprachig zu sein?

In einigen Ländern wird der Begriff „zweisprachig“ sehr großzügig verwendet, d. h. jeder, der zwei Sprachen spricht, gilt als zweisprachig. In sprachlich anspruchsvolleren Umgebungen, wie z. B. in Spanien, bedeutet Zweisprachigkeit jedoch, dass man beide Sprachen in allen Bereichen muttersprachlich beherrscht: Sprechen, Lesen, Schreiben und Verstehen.

Der Akzent ist ein aufschlussreiches Beispiel: Selbst fließend Sprechende verraten durch subtile Aussprachefehler, ungewohnte Intonation oder auffälligen Sprachrhythmus oft ihre dominante Sprache. Die Forschung bestätigt, dass früher Sprachkontakt entscheidend für den Erwerb einer muttersprachlichen Aussprache ist. Kinder aus Einwandererfamilien sprechen oft von klein auf zwei Sprachen, sind jedoch in speziellen Kontexten nicht vollständig zweisprachig.

2. Der Mythos der vollkommenen Zweisprachigkeit

Echte symmetrische Zweisprachigkeit, bei der beide Sprachen in allen Kontexten gleichermaßen fließend beherrscht werden, ist äußerst selten. Das liegt daran, dass der Sprachgebrauch fast immer kontextspezifisch ist.

Stellen Sie sich jemanden vor, der in einem spanischsprachigen Elternhaus aufgewachsen ist, aber in Deutschland auf Deutsch unterrichtet wurde. Sie können sich mit Leichtigkeit auf Spanisch über das tägliche Leben unterhalten, haben aber Schwierigkeiten mit Fachbegriffen oder akademischem Vokabular. Umgekehrt kann jemand, der Spanisch an der Universität studiert, brillante Aufsätze verfassen, aber ins Stocken geraten, wenn er in Madrid Tapas bestellt oder lokalen Slang verstehen soll.

Dies nennt man Sprachdominanz: Eine Sprache ist je nach Kontext stärker ausgeprägt als die andere. Der Linguist François Grosjean betont, dass Zweisprachige keine zwei Einsprachigen in einer Person sind, sondern ein einzigartiges, vom tatsächlichen Sprachgebrauch geprägtes Sprachrepertoire besitzen.

Wissenschaftliche Referenz:
François Grosjean, Bilingual: Life and Reality (Harvard University Press, 2010)
Kernaussage: Zweisprachige Menschen passen ihren Sprachgebrauch an ihre Umgebung an und beherrschen selten alle Bereiche beider Sprachen gleichermaßen.

3. Warum Zweisprachigkeit nicht automatisch zum Übersetzer macht

Ein weit verbreiteter Irrglaube ist, dass Zweisprachige natürliche Übersetzer sind. Schließlich beherrschen sie ja „beide Sprachen“, oder? Beim Übersetzen geht es jedoch nicht nur darum, Wörter zu kennen, sondern auch zu wissen, wie man sie benutzt. Es erfordert:

  • tiefes kulturelles Bewusstsein (z. B. Redewendungen, Tonfall, Humor),
  • Fachwissen (insbesondere in juristischen, medizinischen oder technischen Bereichen),
  • Beherrschung der Schreibkonventionen in beiden Sprachen.

Zweisprachige können Gespräche in beiden Sprachen mühelos verstehen, erreichen jedoch oft nicht die Präzision, Nuancen und Konsistenz, die für die Übersetzung komplexer Inhalte nötig sind. Viele professionelle Übersetzer arbeiten sogar nur in eine Richtung, meist in ihre Muttersprache, um höchste Qualität zu sichern.

Schnelles Beispiel:
Zu wissen, wie man „Datenschutzverletzung“ auf Spanisch sagt, reicht nicht aus. Ein Übersetzer muss wissen, wie der Begriff in der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) formuliert ist, welche juristische Terminologie gilt und wie er im Zielrechtssystem korrekt wiederzugeben ist. Das geht weit über einen lockeren Sprachgebrauch hinaus.

Zweisprachigkeit ist ein guter Ausgangspunkt für eine Übersetzungslaufbahn, aber nur ein Teil des Gesamtbildes.

4. Was wirklich wichtig ist: Funktionale Zweisprachigkeit

Statt dem Mythos der „perfekten Zweisprachigen“ nachzujagen, ist das Konzept der funktionalen Zweisprachigkeit realistischer und nützlicher. Das bedeutet, beide Sprachen in zentralen Situationen effektiv nutzen zu können – ob im Beruf, im Familienleben oder in der Wissenschaft.

Die reale Welt der Zweisprachigkeit ist chaotisch und dynamisch. Sie verändert sich mit dem Alter, der Umgebung und den beruflichen Anforderungen. Und das ist in Ordnung. Selbst begrenzte Zweisprachigkeit eröffnet große Chancen für interkulturelles Verständnis, geistige Flexibilität und globale Vernetzung.

Fazit

Zweisprachigkeit ist kein Zeichen sprachlicher Perfektion, sondern ein praxisgeprägtes Werkzeug. Ob Sie zwei Sprachen fließend sprechen oder sich in beiden gerade zurechtfinden: Zweisprachigkeit ist wertvoll, aber keine magische Eintrittskarte in die Welt der Übersetzung. Und falls Sie eine Übersetzungslaufbahn in Betracht ziehen? Machen Sie sich bereit, viel tiefer einzutauchen.

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Josh Gambin

Er studierte Biowissenschaften an der Universität in Valencia und Übersetzen und Dolmetschen an der Universität in Granada. Heutzutage arbeitet er als Projektmanager, Layouter, Freiberufler und interner Übersetzer. Seit 2002 ist er Gründungspartner von AbroadLink wo er als Vertriebs- und Marketingdirektor tätig ist.

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